Samira Teil 2
Weiter kam ich an dem Tag nicht mehr mit meiner Geschichte. Klare Gedanken fasste ich nicht mehr, starrte stattdessen in die Ferne, ohne an irgendetwas zu denken. Später, als ich ins Bett ging, dachte ich noch einen Augenblick über alles nach. Die ganze Situation kam mir seltsam vor. Zauberei, wohlmöglich Hexen und Ähnliches. Ein Thema, mit dem ich mich noch nicht auseinandergesetzt hatte. Dafür fehlten mir die Hintergründe und das brauchte ich, wenn ich darüber schrieb.
Als ich aufwachte, war ich putzmunter und ausgeschlafen. Der Tag konnte kommen und ich war neugierig darauf, was ich erleben würde. Die Zeit konnte nicht schnell genug vorbei gehen, aber wie immer, wenn man auf etwas wartet, geht die Zeit viel zu langsam rum. Schon eine Stunde vor der Zeit, zu der ich aufbrechen musste, ging ich los, saß bald auf der Bank.
Um diese Zeit hatte ich noch niemals auf der Sitzgelegenheit gesessen und daher war sie noch halb in Sonnenlicht getaucht. Ich setzte mich genau dort hin, sah einmal blinzelnd in das helle Licht, schloss danach meine Augen, um die warmen Strahlen auf der Haut zu spüren.
Es war angenehm. Ich bekam etwas Farbe im Gesicht und genoss es außerordentlich, dort zu sitzen, ohne etwas zu tun. Ich kultivierte meine Langeweile. Wobei das nicht richtig war. Ich hatte keine Langeweile, sondern wartete auf etwas.
Erst als die Sonne aus meinem Gesicht verschwunden war, kam Samira um die Ecke gelaufen.
Sie kam gerade rechtzeitig, denn eine große Wolke war vor die Sonne gezogen und in nächster Zeit würde es kühler werden.
„Hallo!“, meinte sie, als sie sah, dass ich sie anschaute, „Sie sind aber früh da. Aber das macht nichts. Ich habe alles besprochen und wir können losgehen, wenn sie wollen?“
Zu etwas anderem war ich nicht hier, also stand ich auf und folgte Samira, die zuerst vorging. Doch ich holte sie ein und wir gingen nebeneinander weiter. Zuerst durch den Park, dann in eine Gegend, durch die ich selten kam. Alte Häuser wechselten sich mit einigen unbebauten Grundstücken ab. Eine ruhige Ecke der Stadt, die aussah, als wenn man sie vergessen hatte. Sie wirkte verschlafen, vielleicht sogar verwunschen.
Wir kamen an einer hohen Mauer vorbei, die nur durch ein großes, schmiedeeisernes Tor unterbrochen wurde. Dieses Tor öffnete Samira, welches dagegen protestierte, indem es ein quietschendes Geräusch abgab. Als es so weit geöffnet war, dass wir hindurchpassten, schlüpfen wir durch den Spalt und standen wenige Augenblicke später dahinter. Samira ließ es los und es schlug von alleine zu.
Hinter diesem Tor begann eine andere Welt. Das Grundstück war groß und sah verwildert aus. Wenn man jedoch genauer hinsah, konnte man bemerken, dass es eine gewollte Unordnung war. Jemand hatte sich große Mühe damit gemacht, es wirken zu lassen, als wenn alles von selber wuchs. Dabei hatte derjenige auf eine große Vielfalt an Blumen und Grünpflanzen geachtet.
Samira ging vor, denn der Weg vor uns, bot nur wenig Platz, zu wenig, um nebeneinander gehen zu können. Alter Baumbestand säumte den Weg zusätzlich und die Kronen wuchsen darüber. Alles war in ein geheimnisvolles Dämmerlicht getaucht und man hatte den Eindruck, als wenn man durch einen grünen Tunnel lief. Hier gab es viel zu sehen, und genauso viel zu riechen. Die Blumen am Rand verströmten bei diesem warmen Wetter einen betörenden Duft, der sich in die Nase schlich.
Der Weg war gewunden und man konnte nur wenige Meter weit sehen, dann versperrte einem das Grün die Sicht. Nach etwa zwanzig Metern kamen wir an einem Haus vorbei, welches eher den Namen Villa verdient hätte. Zwei Säulen stützen den Söller über dem Eingang, der höher gelegen und über vier Stufen erreichbar war. Doch wir gingen zu meinem Leidwesen daran vorbei. Es hätte mich interessiert, wie es in dem Gebäude aussah.
Zwanzig Meter weiter, öffnete sich das Dickicht zu einer Seite und eine Lichtung, von zwanzig Metern Durchmesser, wurde sichtbar, auf der eine Art Wohnwagen stand, der aber eher an einen Bauwagen erinnerte. Er war grün angestrichen worden und mache einen alten, jedoch gepflegten Eindruck. Unterhalb der zwei Fenster, auf unserer Seite, waren zwei kleine Blumenkästen angebracht worden, in denen lange Margeriten standen, deren helle Köpfe leicht hin und her schwankten. Sie gaben dem Ganzen ein fröhliches Aussehen, genauso wie die kleinen Blumenbeete, die um den Wagen herum angelegt worden waren. Verschiedenste Pflanzen wurden hier gepflegt, allerdings eher Kräuter und Ähnliches. Sie schienen einen anderen Nutzen zu haben, als nur gut auszusehen. Einige kannte ich, andere nicht. Dabei fiel mir besonders eines der Beete auf. Es war nicht mit Erde bedeckt, sondern mit Steinen angehäuft, die an groben Schotter erinnerten. Zwischen diesen Steinen wuchsen Pflanzen, die ich meinte zu kennen. Bilsenkraut. Was sie zwischen den anderen Kräutern zu suchen hatten, war mir nicht klar. Allerdings kannte ich nicht alle, von daher konnte auch noch andere dabei sein, die nicht für den Genuss bestimmt waren.
Samira ging auf den Wagen zu und ich sah mich währenddessen um. Selbst die Bäume um die Lichtung bestanden aus mehreren Arten. Ich erkannte sowohl einen Apfel- und Pflaumenbaum. Zu meiner Überraschung stand eine Eibe direkt dazuwischen und darunter Tollkirschen. Dabei hoffte ich nur, dass es keine Kinder in der Nähe gab, besonders zur Erntezeit. Wer auf diese Idee gekommen war, musste ein seltsamer Mensch gewesen sein.
Am Wagen angekommen klopfte Samira an die hölzerne Tür und wir warteten davor. Zuerst passierte nichts, doch fünf Sekunden später konnte man erkennen, dass der Wagen wackelte. Also bewegte sich etwas oder jemand darin. Als die Tür aufschwang, wusste ich nicht, was ich sagen sollte.
In der Tür wurde eine Frau sichtbar, die Samira glich, allerdings war sie im Alter schwer zu schätzen. Sie war älter, was man an den grauen Strähnen, zwischen den roten Haaren, erkennen konnte. Trotzdem war es mir unmöglich zu sagen, wie alt wie war. Sie konnte genauso vierzig als auch sechzig sein, vielleicht noch älter. Was besonders auffiel, war die Tatsache, dass sie dieselben Augen hatte wie Samira. Dieselbe Farbe und Ausstrahlung.
Sie sah zuerst Samira an, danach mich etwas länger. Währenddessen fragte sie mit einer rauen Stimme: „Ist er das?“
Samira nickte, ließ jedoch kein Wort hören, senkte nur ihren Kopf ab, als wenn sie damit Demut zeigte.
„Na, dann kommt rein. Wir werden sehen, was du da entdeckt hast. Sehr interessant sieht er ja nicht aus!“
Ich wurde gar nicht gefragt, allerdings wäre mir auch nichts eingefallen. Die ganze Situation war einfach zu seltsam. Noch weniger fiel mir dazu ein, als ich im halbdunkel des Wohnwagens stand. Er war schmal und vollgestopft mit Dingen, die ich in der Art noch nicht gesehen hatte. An den Wänden waren überall Regale angebracht worden, auf denen diverse Töpfchen, Tiegel, Dosen und Gläser mit unbestimmten Inhalten standen. Dabei war eine bestimmte Ordnung zu erkennen. Auf einem der Regale standen Gläser mit irgendwelchem Grünzeugs, aus dem nächsten Dosen mit einer Beschriftung, die ich nicht lesen konnte.
Während wir weiter in den Wagen hinein gingen, wurde es immer seltsamer. Auf den Regalen lagen ausgestopfte Tiere. Vögel und kleine Nager, neben Reptilien und Amphibien in Gläsern.
Zum Schluss kamen wir am Ende des Wohnwagens an, wo ein Tisch mit vier Stühlen stand. Diese Ecke sah jedoch freundlicher aus, denn hier waren drei Fenster eingelassen, die das ganze heller machten.
Ein Grinsen fuhr mir ins Gesicht, als ich den Tisch genauer betrachtete, an den sich die Frau setzte. Mitten darauf stand eine große Kristallkugel und davor lagen diverse Stapel mit Karten.
Ich hatte eine Wahrsagerin vor mir, wobei das in die Umgebung passte. Genau genommen sah sie auch danach aus. Sie trug einen langen, bunten Rock, der bis zum Boden reichte. Allerdings zog er sich beim hinsetzten etwas hoch und man konnte höhere Schnürschuhe erkennen. Dazu trug sie eine dunklere Bluse und diverse goldene Armreifen, die leise klirrten, als sie sich hinsetzte und die Arme auf den Tisch aufstützte.
Sie schaute Samira und mich nacheinander an und forderte uns alleine mit diesem Blick dazu auf, uns zu setzten.
Ich setzte mich und konnte mir ein leichtes Grinsen nicht verkneifen. Humbug, nichts als Augenwischerei. Hier trafen alles Klischees aufeinander, die man sich vorstellen konnte. Die Umgebung, die Kugel, die Karten. Alles vorhanden. Fehlte noch ein menschlicher Schädel mit einer Kerze darauf, dann wäre es vollständig gewesen.
Es passte jedoch nicht, dass es hier hell war. Es hätte schwummriger sein müssen. Wahrscheinlich hatte sie vergessen die Vorhänge vorzuziehen, die man an den Fenstern erkennen konnte.
Wir saßen uns einen Moment gegenüber, während die Frau mich aufmerksam musterte. Dabei hatte ich wie bei Samira den Eindruck, als wenn sie mich scannte.
Ich wollte die Situation für mich erträglicher machen. Die vorhandene Spannung ging mir auf die Nerven und ich wollte diesem albernen Spiel ein Ende bereiten. Ich hatte nicht gewusst, dass ich in ein solches Spiel mit eingebunden werden sollte. Hätte noch gefehlt, dass sie mir eine Rechnung dafür in die Hand gedrückt hätte. Vielleicht vorher noch Handlesen. Wer wusste das schon.
„Gute Frau!“, begann ich, während sie mich weiterhin anstarrte, „Ich glaube, hier liegt ein Missverständnis vor. Ich will kein Horoskop und keine Aussicht auf mein weiteres Leben. Ihre Tochter hat mich gefragt, ob sie mich sehen könnten und ich bin mitgekommen. Bitte hören sie damit auf, mich zu veralbern!“
Die Frau sagte nichts, sah mich noch eine ganze Weile lang an, bis es mir zu bunt wurde. Ich stand auf und wollte gerade gehen, als sie mit schneidender Stimme meinte: „Stopp, wieder hinsetzten. Wir sind noch nicht fertig!“
Seltsamerweise klang es nicht nur wie ein Befehl, sondern mein Körper reagierte darauf, ohne dass ich darauf einen Einfluss hatte. Schon saß ich, konnte mich nicht mehr rühren, auch wenn mein Gehirn etwas anderes wollte. Aufstehen war nicht möglich.
Ihr Blick wurde noch eindringlicher und ich glaubte zu sehen, wie ihre Augen immer größer wurden. Groß wie Teller blickten sie mich an und gruben sich in die meinen. Dabei hatte ich den Eindruck, als wenn ich die Gedanken von jemandem anderen hören konnte, verstand sie aber nicht. Es war eher wie ein Wispern, ein leises Raunen.
Ohne Übergang verschwand dieser Eindruck.
Als wenn nichts gewesen wäre, saß sie vor mir und atmete schneller und tiefer als zuvor, als wenn sie sich stark angestrengt hätte. Ebenso verließ mich die Starre, die mich gefangen hatte. Ich war wieder Herr meines Körpers und hätte aufstehen können, aber ich tat es nicht. Jetzt hatte ich den Eindruck, als wenn es interessant werden könnte.
„Sie urteilen nach dem, was sie sehen, nicht nach dem, was sie spüren. Wenn sie glauben, dass die Kugel, die Karten und alles andere hier Firlefanz ist, dann haben sie teilweise recht. Es ist nicht für sie bestimmt, sondern für andere. Sie sind aus einem anderen Grund hier. Samira hat mir erzählt, was ihr passiert ist und ich möchte gerne herausbekommen, ob es ist, wie ich denke.
Wenn ich es richtig sehe, ist dort etwas, was für mich und für sie selber interessant werden könnte. Noch konnte ich es nicht genau sehen, es liegt im Nebel. Doch wenn sie möchten, können wir es gemeinsam herausfinden!“
„Und was wird das kosten?“, fragte ich noch ungläubig, denn ich glaubte, dass es ein abgekartetes Spiel von Samira und der Frau war. Dabei fungierte Samira als Lockvogel. Dann wäre das Stolpern gespielt gewesen, um mich in die Falle zu locken. Gut eingefädelt, das musste ich zugeben.
„Es wird sie nichts kosten, sie sind kein Kunde. Sagen wir mal so, sie sind ein Forschungsobjekt für mich. Gleichzeitig werden sie viel über sich selber erfahren, werden etwas lernen, was sie für nicht möglich gehalten hätten. Was halten sie davon?“
Es kostete nichts. Das passte einfach nicht in meine soeben aufgestellte Theorie.
In meinem Kopf kreiste es und ich fragte mich, ob ich das wirklich mitmachen wollte. Zuvor war ich ein rational denkender Mensch gewesen, hier betrat ich Neuland und das behagte mir nicht. Es würde nicht in mein Weltbild passen, was ich mir zurechtgelegt hatte und seit meinem gesamten Leben glaubte. Esoterik und Ähnliches hatte ich niemals an mich herangelassen, empfand es als sinnlos, an den Haaren herbeigezogen.
Auch wenn ich es ablehnte, konnte es nicht schaden, sich darauf einzulassen. Schlimmstenfalls würde es mich in meiner Ansicht bestärken, dass es Mist war. Was hatte ich zu verlieren.
Nichts.
„Nun gut. Abgemacht. Wenn es nichts kostet, werde ich an ihrem Experiment teilnehmen. Allerdings nur unter der Bedingung, dass ich aussteigen kann, wenn ich es will. Jederzeit. Keine Fragen danach, warum oder weshalb!“
Die Frau schien einen Augenblick zu überlegen, nickte und meinte: „Gut, ich habe kein Problem mit der Bedingung, da ich weiß, dass sie nicht abbrechen werden!“
Während sie das sagte, zog sie ihre Mundwinkel leicht nach oben und ein hintergründiges Lächeln kam zum Vorscheinen, welches ich nicht deuten konnte.
„Ach übrigens!“, sage sie auf einmal langsam und mit einem jetzt sehr freundlichen Ton: „Samira ist nicht meine Tochter und ich heiße Asifa. Ich mag es nicht, wenn man mich mit Sie anspricht. Könnten sie mir verraten, wie sie heißen? Es würde alles leichter machen!“
Warum nicht. Was würde es ändern, wenn sie meinen Namen kennen würde: „Ralf, mein Name ist Ralf!“
„Danke Ralf, dass sie sich bereit erklärt, haben mitzumachen. Es wird uns beiden sehr viel bringen!“
Erst jetzt wendete sich Asifa an Samira und meinte nebenbei: „Gut gemacht Samira. Es ist gut, dass du ihn hierher gebracht hast. Schon lange habe ich niemandem mehr gesehen wie Ralf. Ihr könnt jetzt gegen!“
Dann wendete sie sich erneut an mich: „Es würde mich freuen, dich bald wieder zu sehen. Wann würde es dir passen. Du bist sicher ein viel beschäftigter Mann. Ich möchte nicht, dass du dich gedrängt fühlst. Es ist deinen freie Entscheidung!“
Um ehrlich zu sein, war ich inzwischen neugierig geworden. Ich selber wollte wissen, wie es weiter ging. Von daher würde ich Zeit haben, ich würde sie mir nehmen.
„Ich könnte morgen wiederkommen. Ist kein Problem!“ antwortet ich und sie nickte.
„Dann wird es so sein!“, kam ihre Antwort und mir kam es vor, als wenn dies das letzte Wort von ihr war. Also stand ich auf, nickte in ihre Richtung und verließ mit Samira den Wagen, die hinter mir herkam.
Als wir draußen standen, atmete ich tief durch und fragte Samira: „Ich hätte schwören können, dass sie deine Mutter ist. Ihr seht euch sehr ähnlich. Entschuldige, wenn ich daneben gelegen habe.“
„Schon gut. Man hält Asifa öfters für meine Mutter. Ich bin das gewohnt. Ist sie aber nicht!“
Mehr löste sie es nicht auf, lächelte stattdessen und begleitete mich zum Tor. Hier verabschiedeten wir uns voneinander und ich ging, mit vielen neuen Eindrücken im Kopf, nach Hause.