Der Nachbar (3)
Sie nippte an ihrem Latte macchiato, leckte sich genüsslich das bisschen Schaum von den Lippen und starrte wieder durch die grosse Fensterfront des Cafés auf die Strasse. Sie beobachtete die Leute auf dem Bürgersteig, wie sie gehetzt zu irgendwelchen Terminen rannten oder entspannt und plaudernd flanierten. Manchmal schaute sie auch ihr Spiegelbild im Schaufenster an und amüsierte sich immer wieder über das verwirrte und entsetzte Gesicht des Nachbarn. Grinsend dachte sie: ‘So schlimm bin ich doch gar nicht’ und lehnte sich zurück.
Sie hatte – wohl in Auflehnung gegen ihre Eltern -früh ihren Schulfreund geheiratet und bereits mit knapp 19 ihre erste Tochter Lena bekommen. Das hatte ihre ganze Planung völlig über den Haufen geworfen. Anstatt zu studieren kümmerte sie sich um die Kleine und knapp eineinhalb Jahre später kam dann Susi zur Welt. Doch ihren Wunsch Ärztin zu werden hatte sie nicht aufgegeben. Mit 23 begann sie dann doch ihr Studium und sie fühlte sich den anderen Studenten einerseits überlegen, andererseits beneidete sie sie manchmal um ihre Freiheiten, tun und lassen zu können, was sie wollten. Wenn die anderen nach den Vorlesungen zu Partys gingen, eilte sie nach Hause, um die Kleinen noch ins Bett bringen zu können. Danach holte sie ihre Bücher hervor und lernte bis spät in die Nacht hinein. Für Freizeit oder Vergnügen blieb keine Zeit. Nur dank der Hilfe ihrer Mutter und ihres Mannes, die sich beide liebevoll um die Kinder kümmerten, konnte sie die ersten Jahre des Studiums überhaupt überstehen.
Sie war eine der Besten im Studium und sie war ziemlich stolz auf ihre Leistung. Auf der Strecke blieb allerdings ihre Beziehung. Die Romantik verblasste bereits nach Lenas Geburt auf ein Minimum, aber nachdem sie das Studium begonnen hatte, war es mehr ein Überleben im Stress als ein Leben in Zweisamkeit. Für Sex waren sie beide entweder zu müde oder die Kinder brauchten die Aufmerksamkeit. Trotzdem hatte sie das Gefühl, alles im Griff zu haben. Zumindest bis zu dem Moment, als ihr Mann ihr eröffnete, dass er die Trennung wolle und einen Job in den USA angenommen hätte. Eine Woche später sass er bereits im Flieger und sie allein mit zwei kleinen Kindern in einer tristen Zwei-Zimmer Wohnung.
Trotzdem hatte sie es irgendwie geschafft das Studium zu beenden, anschliessend eine Stelle im Krankenhaus zu bekommen und die Mädchen aufzuziehen. Beide waren so schön wie ihre Mutter geworden und Lena hatte vor kurzem ihr Abitur geschafft. Cleo war zu Recht stolz auf ihre Leistung.
Nachdem ihr Mann abgehauen war, hatte sie weder Zeit noch Lust sich mit irgendwelchen anderen Männern zu verabreden. Wenn sie nicht arbeitete oder lernte, dann kümmerte sie sich um ihre Töchter. Einzig das Joggen und ein Mix aus Aerobic und Yoga liess sie sich nicht nehmen und das war effektiv ihre einzige Freizeitbeschäftigung. Sie ging grundsätzlich ungeschminkt zur Arbeit, aber das tat ihrer Schönheit keinen Abbruch. Die Avancen der Männer liessen sie allerdings völlig kalt und sie genoss den Ruf der unnahbaren Schönheit. Immerhin, ihre Kompetenz war unbestritten.
Vor einigen Jahren, als die Kinder schon etwas grösser waren und sie fast zwangen auch mal auszugehen, hatte sie eine Phase, in der sie einige Männerbekanntschaften machte. Doch die Männer konnten nicht damit umgehen, dass sie kaum Zeit für sie hatte und so blieb es bei kurzen, aber meist intensiven Affären. Sie genoss den Sex, aber sie vermisste ihn nicht, wenn die Männer wieder weg waren. Einmal liess sie sich auf eine Frau ein, genoss die ungewohnte sexuelle Spannung, aber auch sie hatte das gleiche Problem wie die Männer. An einer reinen Sexbeziehung hatte aber wiederum Cleo kein Interesse und so verlief alles immer im Sand. Sie musste sich eingestehen, sie hatte schlicht keine Zeit für Job, Kinder und eine Beziehung.
Obwohl sie bestimmt schon drei Jahre lang keinen Sex mehr gehabt hatte, so hatte sie nie das Gefühl, dass ihr etwas fehlte. Vor rund einem halben Jahr hatte sich vieles, und das sehr rasch, verändert. Susi hatte sich für ein Austauschjahr in einem College in den USA entschieden und war zu ihrem Vater geflogen, bei dem sie nun ein Jahr leben würde. Lena war im Lernstress und hatte keine Zeit für irgendwas, schon gar nicht für ihre Mutter. Und kurz nach Susis Abreise hatte sie auch noch einen neuen Job in einer sehr renommierten Privatklinik angenommen. Anstatt 60- oder 70- Stunden Wochen hatte sie plötzlich relativ normale Arbeitszeiten und Zeit, zuhause zu entspannen. Sie waren kurz vorher auch noch in eine grössere, schönere Wohnung umgezogen. Und zum ersten Mal seit Jahren sass sie jetzt manchmal zu Hause und konnte nachdenken, lesen, entspannen, in die Glotze schauen oder machen, was auch immer sie wollte.
Vor einigen Wochen ereignete sich diese Episode mit dem Spanner. In ihrer alten Wohnung hätte das nicht passieren können, die lag im sechsten Stock. Sie war sich sicher, dass sie früher aber auch nicht lange darüber nachgedacht hätte – schlicht weil sie keine Zeit dafür gehabt hätte. Aber das war nun ja anders und sie führte ihre neuen Fantasien auf die viele neue Freizeit sowie ihre lange unterdrückte Sexualität zurück. Sie würde vorerst niemandem davon erzählen. Sie nahm den letzten Schluck und dachte: ‘Ist ja nur eine Fantasie, was soll’s, das geht ja auch gar niemanden was an’, stellte das Glas hin und ging zur Arbeit.