Lehrerin wird Lernende
Aufgeschlagen das Heft, offen gelegt ein Kreis, berührt von drei Tangenten. Darüber, aus der Dimension des Raumes kommend: das Lineal; durchsichtig, nicht gefärbt, mit Mittelschiene gegen Bruch verstärkt. An die Zentimeterskala gehalten ein Rotstift, bereit, einen Tangentenwinkel zu korrigieren.
Den Klang der Wohnungsglocke im Gehör schiebt zögerndes Aufstehen den Schreibtischstuhl zurück. Neugier, leicht verärgert, läuft durchs Zimmer, durch den Flur, greift zum Hörer für die Sprechanlage an der Haustür. Unwirsches ‘Hallo?’ vermutet, ein angeblicher Student wolle Zeitschriften verkaufen oder eine Zeugin Jehovas ihre Wahrheit verkünden.
“Hier ist Régine d’Eifel. Ich will wegen des Vorfalls heute Vormittag mit Ihnen unter vier Augen sprechen.”
Die Stimme, die Sätze in der Hörmuschel führen fünf Stunden zurück, ins Gymnasium, in den Physiksaal: vor dem rechten Arm, der strikt gestreckt zur Saaltür weist, steht Régine, baumlang, oben Funkelblick; die Augenpaare der Klassenmeute lauern mit lüsterner Schadenfreude, verfolgen, wie die Gemaßregelte sich abwendet, ohne Hast die Tür erreicht, sie von außen schließt; sich entspannend sinkt der Arm, der die Oberhand behalten hat. Also passt die Absicht nicht, ‘Kein Bedarf’ zu sagen, dennoch sträubt sich Unbehagen: es passe nicht, so gehe es nicht, sie hätte anrufen sollen, für solche Anliegen seien Schulpausen da.
“Ich werd’ Sie nicht unnötig aufhalten. Die Geschichte hat mich hergetrieben. Auf dem Motorroller, bei der Kälte.”
Gespräche aus dem Lehrerzimmer fallen ein, über die in Frankreich geborene (als Vollwaise bei ihren hiesigen Großeltern lebende) Régine, Dispute über ihr häufiges Auffallen, wobei die eigene Auffassung (die der Jüngsten im Kollegium) das Sicherregen der Kollegen meist für überzogen hielt. Ein ‘Wenn du’s kurz und bündig machst, meinetwegen’ kommt dem jungen Eigenwillen unwillig entgegen. Unmut spitzt (niemand sieht’s) die Lippen, flunscht launisch wie ein Kind.
“Ich versteh’ schon. Kein Plauderstündchen. Darauf dürfen Sie sich verlassen.”
Hörer ein-, Sicherheitskette aushängen, an die Taste mit Schlüsselsymbol tippen: mechanisch (Marionetten artverwandt) reagiert die rechte Hand, liegt schon auf der Klinke, zieht die Tür zur Wohnung auf. Im Treppenhaus Liftgeräusche, summend, verstummend, Leere, nein, da: Weinrot ein Overall, wetterfest wattiert, unten schwarze Joggingschuhe, gelb gezackt verziert. Locker schwingen lange Arme, der linke mit dem Sturzhelm, weiß wie ein Gletscher, das Visierglas davor (Kreuzzug, Raubritter, Turnier verknüpft Vision mit dem Visier). Ins Helminnere gestopft: ein lichtblauer Wollschal und Stulpenhandschuhe, rabenschwarze Ledertatzen (kriecht ein Monster aus der Raumschiffluke? Senden ferne Sterne eine militärische Mission? Als Vorhut, als Späher? Zum Warnen, zum Drohen? Vielleicht als Verheißung?).
“Guten Tag.”
In der Sekunde, da ihre Sohlen den Schmutzvorleger benutzen, unterdrückt gewohntes Benehmen eine erste Regung, die Angelegenheit zwischen Tür und Angel zu regeln. Zur-Seite-treten lässt die ungebetene Besucherin über die Schwelle; doch das Schließen der Wohnungstür vermeidet, vermeintlich unauffällig, die Hand zu reichen. Die so nah noch Größere gibt sich, als bemerke sie es nicht, begibt sich zur Garderobe, stellt auf der Kommode, dem hellen Holz vorm Spiegel, den Sturzhelm schaukelnd ab: zehn Finger aus Leder wiegen sich (wachsen wie schwarze Gewächse aus der Eierschale einer Eiszeitechse). Erhoben überschaut das hoch stehende Haupt den Vorraum und unbefangen (wie soeben heimgekommen) steuert die Hereingeschneite zur geöffneten Zimmertür.
“Ihre gute Stube, stimmt’s?”
Wenn der Akt schnell über die Bühne soll, wieso nicht auf dem Flur, ohne lang zu fackeln? Erziehung wie gehabt, die so nicht fragt, statt dessen anständig ‘Bitte’ sagt, sich in die gastgebende Rolle fügt, artig dem wolkig sich bauschenden Overall folgt (ins Schlepptau genommen, abgeführt), gleich noch zum Sitzen bitten wird. Nur sieht die Vorangehende nicht zurück (lässt forsch die Rücksicht hinter sich), durchquert das Wohnzimmer zum eichenschweren Schreibtisch hin, verhält den raschelnd raschen Schritt vor ihm, ragt (ein großer roter Vogel) dem Fenster zugewandt, schaut ins Freie und wendet sich, als sei sie angetan.
“Irre, die Aussicht bei Ihnen. Vor meiner Bude, o je. Hinterhof am Ostfriedhof, blätternder Verputz, lüftende Betten.”
Draußen trüber Januar, bunt nur das Lichtspiel von Autos und Ampeln, auf der Doppelkuppel der Frauenkirche noch Schnee. Die Tür mit einer Hand im Rücken zuschiebend, tröstet Höflichsein, so reizvoll sei der Anblick nicht, da gebe es andere. Doch rührt sich nun auch Ungeduld, lädt nicht zum Platznehmen ein, verzichtet darauf, in Schreibtischnähe zurückzukehren, wahrt Distanz zur hünenhaft Gewachsenen, erkundigt sich stehend, was sie zu sagen habe. Als die Gefragte wie zur Antwort die Linke in die Hüfte stemmt, tritt ihr Umriss scharf zu Tage, formt sich ihre Masse zu mächtiger Gestalt.
“Ich verlange, dass Sie sich entschuldigen. Auf der Stelle. Und in der nächsten Physikstunde, vor versammelter Klasse.”
Der Erwartung, die Gymnasiastin werde ihrerseits Bedauern bekunden, verschlägt es die Sprache. Nicht-gefasst-sein muss sich fassen, schlägt in Ärger um, erlaubt sich an die im Fensterlicht finster Erscheinende die Frage, ob sie sonst noch gesund sei.
“Ich ja. Aber Ihnen verschreib’ ich was gegen das zu hoch getragene Näschen. Einen Denkzettel, den vergessen Sie nie.”
Durchgriff
In die Suche nach einlenkenden Wendungen wie, die Erregte möge sich setzen, sich beruhigen, sich überlegen, was dem Unterrichtsverweis vorausgegangen sei, ins Bemühen um Überlegenheit scheren Sprungschritte: ein Schatten, Rot, der Overall versperrt die Sicht; Packen der Haare im Nacken duckt die Schultern ins Stolpern, auf den Schreibtisch zu. Nutzlos zu kreischen: ‘Bist du verrückt geworden!’; hilflos die Hände, die das Genick zu befreien suchen, mit an eigenen Haaren reißen; kopflos das Rudern der Arme, denn schon steckt der Kopf in der Zwinge starker Oberschenkel, stößt ans Schreibtischholz. Oben (auf dem Thron) lehnt bequem das schwere Mädchen, kann beinhart volle Kraft entfalten, die Beute in der Beuge halten. Unten (wie zum Hohn) lindgrün die Teppichfliesen, auch Staub.
“Wozu so brüllen? Keine Klasse stört mit Lärmen. Und Sie lehren nicht, Sie lernen.”
Widerstand wütet, stemmt die Beine gegen den Boden, spannt den Oberkörper, um den Kopf aus der stickigen Schlinge, den stämmigen Schenkeln zu zerren, greift mit beiden Händen, kneift mit allen Nägeln in den vom Herfahren noch klammen Overall, durchs dicke Futter durch. Da werden die giftigen Finger zurückgebogen (Stacheln links wie rechts gezogen), sinnlosem Sichwehren im Handumdrehen die Krallen gestutzt.
“Kratzbürste, Sie! Spielen wir Kindergarten, wie? Grob sein ist unfein.”
Durchzuckt von Stichen aus den eingefangenen Händen lassen sich die Arme seitwärts schwenken, über Rücken und Bücken bis kurz vors Auskugeln renken. Spitzer Aufschrei mündet in ‘Du Wahnsinnige!’, doch schäumt der Zorn im eigenen Saft, kann in der Klemme nicht treten, stoßen, beißen, ringt nach Atem unter Armen, die sich im Ziehen oben kreuzen, der Aufregung das Rückgrat buckeln.
“Hör’ ich recht? Was bin ich?”
Zwischen den Kolossen von Schenkeln, die den still gestellten Körper ungerührt unter ihr Joch beugen, versucht Vernunft, Bodenstaub vor Augen, sich zu besinnen, bietet eingehende Aussprache an (fragt verstohlen sich sogar, ob der Auftritt in Physik, der Rausschmiss von Régine nicht nur nicht sehr angemessen, ob er nicht vermessen war).
“Sich sachlich unterhalten? Ohne Respekt vor mir? Den bring’ ich Ihnen bei, dann sehen wir weiter.”
Pädagogik entsinnt sich rege ihrer Pflicht, mahnt, Régine solle sich ihre Zukunft nicht durch eine Kurzschlusshandlung verbauen, predigt, Gewaltlösungen seien keine, noch könne alles beredet, alles bereinigt werden, bevor Porzellan unheilbar zerschlagen sei.
“Späte Reue bei Kaffeeklatsch? Zu spät! Ich bau’ auf handfestes Klatsch-Klatsch.”
Zwar spüren die Finger der über Kreuz gebändigten Hände kein Umklammern mehr, dafür fasst eine Faust, krallt, ballt beide Pulloverärmel zusammen, fesselt fest so Handgelenke, legt die Arme lahm (die Großtochter des Dschingis Chan hebt sich, neigt sich, setzt zum Sturmritt an). Furcht, schlagartig wach, windet wild den Rumpf, will den Zugriff abschütteln, die zudringliche Hand vorm Bauch, die dem Aufruhr nicht weicht, hin, her, klettengleich kleben bleibt, flink fingernd den Gürtel um die Cordjeans losschnallt, den Hosenbund aufknöpft, den Reißverschluss mit einem Ruck schafft, er klafft, reißt auf zum Schrei in Fistelhöhe: ‘Régine!’
“Ich bin da, ja! Um Sie vom hohen Ross zu holen. Jetzt geht’s Ihrem Hochmut an die Hosen.”
Gellend bellen ‘Pratze weg!’, tauchend kauern, fliehend kreisen: nichts rettet aus der Hand, die Cordbund samt Gürtel unter die Hüften zieht, gelassen unters Hemd sich schiebt, sich breit macht über Strumpf- und Unterhose; wie besessen bricht das Becken nach jeder Seite aus, doch obenauf die Reiterin, sie besitzt die Übersicht, braucht sich nur die Säume greifen, energisch gegen die Schwünge streichen, um den Slip, die Strümpfe, Jeans in den Knick der Knie zu streifen.
“O, ein Mond ist aufgegangen. Bald sehen Sie Sterne prangen.”
Derb striegeln ihre Finger die bloßgelegte Haut, wandern am linken Bein, das After weit aufziehend, zurück: entsetzt muckst sich kein Muskel mehr (Kaninchen starrt in den Schlangenblick). Erst, als die raffende Hand auch Hemd mit Pullover hinauf zu den Armen, über verrenkte Gelenke knüllt (vom Unterleib bleibt nichts verhüllt), krümmt sich Widerstreben.
“Wollen Sie sich verkriechen? Wohin? Hoch den Hintern, marsch!”
Um Hilfe rufen? Sich, die Schülerin, die Schule heillos ins Gerede bringen? (In Hörweite wohnen nur Berufstätige, kaum einer im Haus um diese Uhrzeit. Selbst wenn, wer mischt sich ein? Mit Türaufbrechen, Polizisten, Neugierigen…) Nirgends ein Ausweg, jeder verbaut, verstellt, vom Druck der Reitschenkel entschlossen verschlossen (von der gleich Attilas Hunnen sattellos Reitenden, die offenbar weiß, dass Apokalypse Enthüllung, der Hunnensturm Geißel Gottes heißt). Während sich ihr Schwergewicht aus dem Reitsitz auf den Schreibtisch (auf ihr drittes Standbein, das eichenstarke) wuchtet, werden die in eigene Ärmel verstrickten Arme (auch der im Schulsaal strikt gestreckte) über den Rücken gezogen, Pullover-, Hemdwulst hochgeschoben, die Beine dabei angehoben, kann kein Hocken bocken: vollends an den Tag gebracht, straff am Zügel steigt der Steiß.
“Gefällig aus der Wäsche schauen, Sie können’s, schau, schau. Handlich für die blanke Hand. Oder zieh’ ich Ihren Gürtel vor?”
Der Magen gefriert (zu finsterem Eis): keine Regung reizt unnütz die Gereizte.
“Oder? Was glänzt da neben den Heften? O ja, wie geschaffen für Régine, das Zepter für die Königin.”
‘Du Schwein!’, Ohnmacht hört sich schreien (wirr Gift und Galle speien), würgt an Worten, die sich um ‘Klapsmühle’ drehen, scheut den Anklang an Klapse (in der Hölle oder manchem Schauermärchen würden Zähne klappern, die nackten Fakten lassen Herzklappen flattern). Herzklopfen schnürt die Kehle ein (spürt: Racheengel spannt die Flügel) und ungedeckt wölbt sich die Blöße.
“An ein Schweinchen erinnern im Augenblick eher Sie. Zwei Schinken reif zum Kochen, aber große Klappe? Na warte!”
Quer zu den Pobacken: das Lineal; beinahe bei den beiden Beinen kündet seine Kühle Heißes an (wird Plastikfläche Schicksalssiegel). Die oben wohl Geneigte fährt mit ihm: rechts die Kurve, links die Kurve, souverän ins Eingefurchte, geht dem Einschnitt auf den Grund. Sie spießt den Speck und lüftet kantig Spaltentiefe (spielt ‘divide et impera’: verschiebt gezielt den Meridian, entzweit die Halbkugeln der Hinterwelt, handhabt die Faustregel des Römerreichs als eine höchst persönliche).
“Nicht verkrampfen, locker bleiben. Es trifft härter, wenn Sie kneifen.”
Vorn gefangen glühen die Wangen, fast froh, so nicht zu sehen (so lichtscheu eingelocht) zu sein.
“Gleich wird’s im Trotzkopf helle, strahlt Erleuchtung durchs Lineal. Mit der Tracht hinten drauf, dem guten, alten Hausrezept.”
Satzfetzen hetzen, verheddern sich: sie könne nicht, die Folgen, um Himmels Willen… da schlägt der erste Blitz alle Worte aus der Stimme.
“Ich kann. So leid Sie mir tun, Strafe muss sein.”
Stichflammen schießen. Sich nicht senkrecht bäumen zu können lässt Stich nach Stich noch flammender brennen. Die Schreibtischtür als Brett vorm Kopf, mit dem Kopf bis zum Hals in den Schenkeln des Schreckens, mit den Armen überm Rücken an die Kandare genommen: keine Hoffnung zu entkommen. Dass sich das Zügeln etwas lockert, räumt Spielraum zwar zum Wedeln ein, doch so, wie Streich um Streich rundum dichter beißt, hält es der Mund nicht länger aus, heult ‘Hör’ auf! Hör’ sofort auf!’ heraus, erfährt verschärft Vollzug dafür.
“Von wegen. Wer befiehlt denn hier?”
Etwa die Ausgerastete? Nein! Breit saugen Zähne die Unterlippe ein, drängen Weh- und Flehgeschrei in den Leib zurück; doch der bekennt, so mehr bedrängt, sich erst recht: an der festen Hand hüpfen die Hüften, heben sich Beine, ohne rennen zu können (zappelt der Fang in Fängen, die mit anderem als Flügelschlagen zu besonderem Verfüttern tragen). Auch bewegt entgeht die arme Haut nirgendwo der Kräftigen, dem deftigen, dem unbeirrbaren Lineal: jeder Knall ein Feuerstrahl, zu dazu gezischter Zahl.
“Fünfundzwanzig. Kinderdosis. Ob die reicht für Ihren Fall?”
Knackpunkt
Für die eingezwängten Ohren kaum hörbar: die Rückkehr des zum Zeichnen, Messen, Auf-Linie-halten bestimmten Instruments zur Schreibtischplatte. Umso spürbarer unnachgiebige Finger, die sich um beide Handgelenke schließen, sie nach wie vor nach hinten binden, nun auch mit ihnen lenken: den Kopf unterm Schoß hervor, schwimmende Blicke vom Fliesengrün vor den Triumph in Purpur lotsen, vorm Overall den krummen Rücken gerade rücken.
“Brav sich zeigen.”
Gestaucht geschlauchte Glieder straucheln. Hosen rutschen schlampig, knäueln um die Knöchel, wischen den Boden unter Beinen, die staksig vor die Standfeste, tapsig an die Aufrechte wanken, zwischen ihren Oberschenkeln mitgenommen schwanken; die dick verpackten packen die nackten, wie geschockt erstarrten (oder schlimmer: verstockt versteiften) Schwarten, packen sie unverfroren ein.
“Ein brennendes Gesicht, aha. Bloßgestellt die Dame, ja? Bloß noch nicht wie ich, öffentlich.”
Gestautes Blut wallt durch die Eingeweide, in Fluss zu sein scheint auch die Scheide, fühlt sich, als quelle Welle um Welle, schnelle und schwelle bauchwärts an; Schwäche schwemmt ins Schwebenwollen, schwerelos sich loszulassen lockt.
“Köpfchen verdreht sich? Eva nach dem Sündenfall meidet meinen Blick, möchte in die Büsche schleichen? Vorm Engel mit dem Flammenschwert gibt es kein Entweichen.”
Die am Schreibtisch Hochgestellte (besetzend ihn besitzend) presst die blanken Flanken (lässt die Sporen spüren, Pochen galoppieren), trennt die wehrlosen Hände, treibt sie ins Wunde hinein, prägt mit Nachdruck sich so ein, dass Echo lauthals keucht. Alarm blinkt, blinzelt feucht, schaut auf zu ihr, doch nicht, um sich ergeben ihrem Lächeln zu ergeben, sondern allen Ernstes, um die Unverschämte zu beschämen, ihr die Stirn zu bieten: was sie zum Lachen, was sie hier lustig finde, ob sie noch stolz sei auf ihr Tollsein? Leider krächzt das Fragen heiser, wagt sich nur verzagt (wirksam also doch bestraft?) ins Schutzlose hinaus, setzt verstört mehr als empört der Herablassung sich aus, bangt unter ihrem Funkeln, forscht nach einem Funken (hofft auf letzte Reste) von Régines Anstand und Verstand.
“Aber, aber, wie Sie dastehen Standpauken halten? Ist das noch Ihres Amtes? Müssen Sie nicht selber lachen, hm?”
Ihre Pranken umschlingen verschlingend, drücken durch den Rücken an den Overall (als ob die Bärenstarke zu eng getanztem Tango, zum schwülen Schwofen lade); die noch bedeckten Brüste fühlen die rote Riesin atmen: tief ein, tief aus, durch nichts erschüttert teilt sich ihre Schwerkraft mit.
“Sie knien jetzt vor mir nieder. Sie wissen, was ich hören will. Und wehe, Sie bewegen sich anders als erforderlich.”
Dass sich kein Ekel regt, so fremd umarmt, so ungezogen ausgezogen, dass Abscheu ausbleibt weckt Absturzangst, zettelt Aufstand an. Wut sieht rot, übersieht die Übermacht, vergisst, was ist, benimmt sich, als könne der Kopf durch die Wand, keift ‘Verschwinde! Raus aus der Wohnung! Dein Dampfablassen langt! Wir sprechen uns morgen!’
“Hemdenmatz als Schimpfkanone, süß. Schießt fern vom Lernziel wüst um sich. Zum Glück lass’ ich Sie nicht im Stich.”
Hinaufbiegen der hinterm Rücken gekreuzten Arme reißt aus dem Umfangensein; schon taumeln Beine rückwärts, sieht sich der Kopf erneut vor die rote Kluft gebeugt, die ihn in die Zange nimmt, während oben der Pullovergriff die Hinterbacken aufzusteigen (zum Prangen auf dem Pranger) zwingt.
“Dicke des Fells ergibt Umfang der Abreibung. Die Formel pauken wir.”
Wie zu fürchten, nur anders angelegt, der Maßstab: das Lineal; schnittig statt glatt, mit bissiger Schneide, seiner schmalen Skalenseite, umrundet es Verwundetes, erkundet unten Unteres, kerbt sich ein (bevor es gerbt), stochert, stichelt, stachelt auf, stellt sich steil, stützt dann den Damm, hebt das Sitzfleisch wie am Spieß auf kurzer Kante an (erhebt es zur Trophäe); doch so angestochen (und ein Schlachtfest witternd) sich hinten Hüften winden, vorne Tränen sammeln: noch schluckt heftig Eigensinn, um nicht zu schluchzen, nichts zu stammeln.
“Sie zählen. Erzählen, ob meine Sendung ankommt. Ab die Post!”
Hitzeblitze fitzen, fetzen durch den Backenspeck (setzen flammendes Gesetz); unter vorgeglühter Haut breitet Feuersbrunst sich aus; Anbranden am Angebrannten lässt die Zähne zäh zusammenbeißen (von Folter fantasieren: tapfer sie ertragen, niemanden verraten); doch hält die Heldin, da nicht echt (auch nicht im Recht, vom Naturrecht her gedacht), dem Brand nicht stand; der falsche Stolz zerbricht, schrilles ‘Nicht!’ durchbricht das Verbissensein, verbessert sich, wird Schlag auf Schlag zu ‘Aufhören bitte!’, ‘Régine, bitte!’, ‘Bitte, bitte!’…
“Zählen! Zahlen!”
Himmel, die Hiebe, wie viele? Wie viel fielen im erbitterten Gewitter? Sechzehn, siebzehn? Ein neuer sengt, der nächste brennt, die ‘Achtzehn’ ächzt…
“Wollen Sie mich verarschen? Wo beginnen die natürlichen Zahlen?”
Unter unerbittlich, unermüdlich sausendem Arm zerfällt alles alte Ansichhalten, letztes Sichbeherrschen, läuft von selbst die Blase, fließt auf die Fliesen aus, badet Weinen beide Wangen, ruft die nackte Not ‘Eins!’ dem Klatschen eben, ‘Zwei!’ dem nächsten nach, bestätigt Flammen- über Flammenwurf, nimmt hin, nimmt an, zählt mit und merkt: die Runden richtig abzuhaken, geregelt Laut zu geben, wirkt wie ein Ventil, senkt Überdruck im Eingekesseltsein.
“Hört, hört! Und, meine Liebe? Warum nicht gleich so?”
Das Scharfgericht verlangsamt das Tempo, verlängert die Takte (weidet sich weidlich an der Kapitulation); doch lässt sich die Siegerin auf keine Nachsicht ein, wird das Urteil weder ausgesetzt noch abgeschwächt, wird ohne Abstriche vollstreckt (soll nicht nochmal missachtet werden); die heißen Messer schneiden, Zucken tanzt nach ihrem Pfeifen, bis auch ein Hauch Betäubung den gegrillten Backen hilft, das Pensum zu erfüllen. ‘Sechsundzwanzig’, weshalb so viel? ‘Siebenundzwanzig’, halb erstickt… da ist Gnade.
“Durchgebraten? Kein Satansbraten, nicht ungenießbar mehr? Sie folgen aufs Wort, ohne jede Widerrede?”
Ausblick
Was meint sie? Den nach dem zänkisch dummen Meutern noch fälligeren Kniefall? Den Canossagang in ihre Klasse, die Abbitte vor den Mitschülern? Still der Sturm, die Böen abgeflaut; zum nie zuvor Erfahrenen, Empfundenen der letzten Stunde kommt gelöst erlöstes Atmen, weht durch die Bruchlandschaft des Denkens, denkt nicht an Bedenken, nimmt nur verschämt den Harngeruch von der dunklen Pfütze, vom nass gemachten Teppichboden wahr. Durchsetzt von Régines hohem Mut, ihrem überwältigenden Willen, passt sich der eigene, so uneinsichtig, so kindisch stur gewesene, bis ins Mark verschüchtert an, schlüpft zwischen den Fangbeinen der Eroberin, ihrem Lasso aus strengen Strängen, als windelweiches ‘Ja’ empor.
“Nicht so kläglich, klar erklären, wer von uns das Sagen hat. Und wer so oft wie nötig hartes Lehrgeld zahlt. Ganze Sätze, hopp!”
Getroffen von dieses Tones Obertönen, der Stimme aus der Höhe, und patsch, vom Wetterleuchten des Lineals, weiß Aufbrechen im Innersten auf einmal verzweifelt zweifelsfrei: sich einfach zu entschuldigen, wie eingangs gütig vorgeschlagen, die Chance ist verpasst, verspielt, vorbei; der Weg weist unverkennbar, unabwendbar, unumkehrbar in die Sklaverei.
“Braucht Frau Doktor Nachhilfe?”
Über den Kuppen, ballprall geschwollenen, die der Zugarm höher, nein, näher hin zur Hohen reckt: ihr Lineal. Faustfest streicht es (pflügt die Hügel, kämmt die Kämme, furcht die Furche, hebt die Hänge), sticht am Tiefpunkt weitend auf.
“Vergessen Sie sich schon?”
Ein Erinnern, ein Bedrohen (und doch statt Trommelschlegel Geigenbogen). Gezündet springt der Funke, durchglimmt den Leib zum Hals, löst Flügelschwingen aus; eine Papageienzunge, die durch Menschenohren miterlebt, was sie hier ein- und zugesteht, leistet kehlig das Gelöbnis, gibt gegebene Worte (sie in die Ichform nehmend) wieder.
“Schwere Geburt. Kommen Sie raus. Und…”
“… Platz!”